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(Mitteilung) Reaktion unnötig | Datum: | 09:07 Sa 02.11.2013 | Autor: | tobit09 |
Hallo zusammen!
In dieser Antwort stellt Al-Chwarizmi diesen Aufsatz von Johann Cigler zur Diskussion.
Um den zitierten Thread übersichtlich zu halten, eröffne ich hiermit einen eigenen Thread für die Diskussion über diesen Aufsatz.
Ich lese vor allem drei Thesen heraus:
1. Eine rein logische Darstellung mathematischer Theorien ignoriere die historische Entwicklung der Mathematik.
2. Eine rein logische Darstellung mathematischer Theorien sei didaktisch ungeeignet.
3. Naive Mengenlehre sei als Grundlage der Mathematik besser geeignet als axiomatische Mengenlehre.
Meine Sichtweise zu den drei Thesen:
Zu 1.:
Ich sehe keinen Widerspruch zwischen der Darstellung eines rein logischen Aufbaus einer Theorie und der Darstellung der Geschichte der Theorie oder der Mathematik allgemein.
Beides hat seine Berechtigung und nicht jeder Text muss beides leisten.
Zu 2.:
Ich gebe Cigler darin Recht, dass zu einer guten Mathematik-Didaktik auch das motivierende Umfeld der rein logischen Inhalte gehört.
Auf zwei konkrete Beispiele, die Cigler diskutiert, möchte ich eingehen:
a) Die Einführung der reellen Zahlen in einer Anfängervorlesung.
b) Der Umgang mit dem Lemma von Zorn.
Zu a):
Natürlich sollte man nicht vollständig archimedisch angeordnete Körper einführen ohne zu sagen, dass eine Beschreibung der aus der Schule mehr oder weniger bekannten reellen Zahlen beabsichtigt ist.
Mir ist kein Fall bekannt, in dem diese Erklärung versäumt wurde.
Cigler schlägt nun zwei Besonderheiten bei der Einführung der reellen Zahlen vor:
i) Die Intuitionen reeller Zahlen als Dezimalzahlen sowie auf der Zahlengeraden explizit erklären.
ii) Darstellen, dass sich die Axiome aus der Vorstellung ergeben.
Zu i): Ich glaube, diese Intuitionen sind ohnehin allen Studenten bekannt und müssen nicht mehr groß erklärt werden.
Zu ii): Das fände ich auch im Prinzip ideal. Aber das ist praktisch alles andere als einfach. Schon die Addition von (nicht notwendig rationalen) Dezimalzahlen ist alles andere als einfach zu erklären. Ich sehe die Gefahr, dass entweder nur "Scheinerklärungen" gegeben werden oder aber es sehr kompliziert wird.
Zu b): Ich gebe Cigler darin Recht, dass die Verwendung des Lemmas von Zorn als Axiom ungeeignet ist, da es intuitiv wenig plausibel ist.
Dennoch kann es aus didaktischer Sicht sinnvoll sein, den Beweis des Lemmas von Zorn mithilfe des Auswahlaxioms auszulassen (am besten mit Angabe einer Quelle, wo er ohne große Mengenlehre-Vorkenntnisse nachgelesen werden kann).
Cigler spricht in diesem Zusammenhang hingegen von einem "Grundprinzip, dass alle Resultate vollständig und überzeugend dargelegt werden sollen".
Ein solches Grundprinzip halte ich für didaktisch zweifelhaft. Ich denke nicht umsonst hat ein Professor in einer von mir besuchten Vorlesung mal gesagt, er gebe nur die Beweise, von denen er glaube, dass die Studenten daran etwas lernten.
Zu 3.:
Ich kann diese These nicht nachvollziehen. Warum soll man weite Teile der Mathematik nicht auf axiomatische Mengenlehre aufbauen? Das schließt ja nicht aus, hinter den Axiomen eine motivierende Vorstellung zu haben.
Cigler meint, der naive Mengenbegriff gebe das Gefühl er könne widerspruchsfrei sein, die axiomatische Version hingegen gebe dieses Gefühl nicht.
Das sehe ich anders: die axiomatische Version (vielleicht ohne das Fundierungsaxiom) beschreibt ja Aspekte des naiven Mengenbegriffs.
Insofern sehe ich keinen Grund, der axiomatischen Version weniger "Widerspruchsfreiheitsplausibilität" zuzusprechen als der naiven.
Auch äußert Cigler, den intuitiven Mengenbegriff könne man axiomatisch nicht in den Griff bekommen.
Aufgrund der Problematik, dass es in einem ZFC-Universum keine Menge geben muss, die genau der intuitiven Menge der gewöhnlichen natürlichen Zahlen entspricht, gebe ich ihm im Ergebnis hier sogar Recht.
Ciglers Begründung halte ich hingegen für abenteuerlich: Er argumentiert damit, dass die Kontinuumshypothese in der naiven Mengenlehre ("wenn die Anschauung nicht trügt") entweder gelte oder nicht gelte, in ZFC hingegen unentscheidbar sei.
Warum sollte die naive Mengenlehre denn eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Kontinuumshypothese haben? Vielleicht hat sie es. Dann könnte man zur Grundlegung der Mathematik ZFC um ein entsprechendes Axiom erweitern. Aber warum schließt Cigler aus, dass die naive Mengenlehre sowohl mit der Kontinuumshypothese als auch mit ihrem Gegenteil verträglich sein könnte?
Fazit: Ich erkenne in dem Text von Cigler Ansätze didaktischer Überlegungen, die ich für sinnvoll halte. Ansonsten kann ich seinen Thesen im Wesentlichen nicht zustimmen.
Viele Grüße
Tobias
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